4. Mai 2016

„Willkommenskultur für Straftäter“

– dieser etwas provokant klingende Titel war Thema unserer Jahrestagung. Danke an alle, die am letzten Wochenende in Springe dabei waren (Fotos, Vorträge und Zeitungsberichte finden Sie unten bei den Links)! Aber passt das zusammen, die Wörter „Willkommenskultur“ und „Straftäter“?  „Wahrscheinlich ist man nirgends so weit entfernt von einer Willkommenskultur wie im Blick auf Straftäter!“ Das stellte Dieter Rathing, Landessuperintendent für den Sprengel Lüneburg, denn auch gleich fest: „In der Bevölkerung wünscht man sich vermutlich eher mehr Ausgrenzung von Straftätern als weniger.“  Wir im Schwarzen Kreuz arbeiten am Gegentrend. Und es sieht nicht so aus, als wären wir übermorgen überflüssig …

 

„Straftäter sind unglückliche Menschen“

Bei Flüchtlingen immerhin hat in den letzten Jahren ein Umdenken eingesetzt, so Dieter Rathing (Fotos S. 20): Deren Geschichten hätten bewirkt, dass Menschen heute hilfsbereiter auf Migranten zugehen. Viele würden an eigenes Erleben oder an ihre Familiengeschichte erinnert.

In Bezug auf Straftäter, was kann da helfen, den Blickwinkel zu verändern? Vielleicht die biblische Geschichte von Kain und Abel: Kain erschlug seinen Bruder. „Das zeigt uns: Jeder Mensch ist ein möglicher Täter. In mir stecken immer beide Möglichkeiten, das gute Tun und das böse. Und manchmal liegt gar nicht viel dazwischen, ob ich mich so oder anders verhalte.“ Diese Einsicht kann einen einerseits erschrecken, andererseits aber zu mehr Einfühlungsvermögen gegenüber Straftätern führen: „Die Möglichkeit, eine Straftat zu begehen, steckt auch in mir – einfach weil ich ein Mensch bin.“

Zu einer weiteren Einsicht hat Rathing der Schriftsteller Dostojewski verholfen: Nicht gleich in Begriffen wie Straftäter und Sünder denken. Stattdessen „erst einmal ganz schlicht einen unglücklichen Menschen vor mir sehen, eine Seele, die belastet ist, das Gewissen, an dem einer trägt.“ Solche Menschen im Sinne des Evangeliums zu begleiten heiße vor allem, „da zu sein“. Zum Schluss dankte Rathing unseren Ehrenamtlichen dafür, dass sie in diesem Sinne für inhaftierte und haftentlassene Menschen  „da“ seien – „auch stellvertretend für die ganze Gesellschaft.“ Und er sei „ein wenig stolz“, dass das Schwarze Kreuz in Celle und damit in seinem Sprengel seine Heimat habe.

„Fähigkeiten stärken“

Inhaftierte und Haftentlassene willkommen zu heißen bedeutet auch, es ihnen leichter zu machen, sich ein neues Leben aufzubauen. Das erhöht gleichzeitig die Lebensqualität und Sicherheit der Gesellschaft. Oliver Weßels (Fotos S. 11), Leiter der JVA für Frauen in Vechta, betonte, die allerwenigsten Inhaftierten seien von Grund auf böse: „Jeder Mensch hat Fähigkeiten, die es zu nutzen gilt.“ Aufgrund ihrer biografischen Vorbelastung seien sie jedoch häufig lethargisch, sprunghaft und hätten Schwierigkeiten, perspektivisch zu denken. Wichtig: ihr Durchhaltevermögen stärken und sie nach Möglichkeit auch in Ehrenämter wie Vereine oder Umweltschutz mit einbinden – neben den ganz praktischen Hilfen wie bei der Wohnungs- und Arbeitssuche oder Schuldenregulierung.

Ehrenamtliche seien dabei eine wichtige Hilfe: „Sie müssen allerdings bereit sein, sich auf andere Denk- und Verhaltensweisen einzustellen. Dafür braucht es Geduld und Toleranz.“

 

„Wunsch nach Heilung“

Friedrich Schwenger (Fotos S. 25) ist evangelischer Seelsorger am Maßregelvollzugszentrum Moringen und landeskirchlicher Beauftragter für Gefängnisseelsorge. Er wies darauf hin, dass Opfer und Täter eine große Gemeinsamkeit haben: den Wunsch nach Heilung. Wenn ein Straftäter seine Jahre im Gefängnis absitzt, seien damit keine Beziehungen geheilt und keine Schuld vergeben. Es bleibe „die Qual, jeden Tag mit der Tat zu leben und verantwortlich zu sein für das, was geschehen ist“, zitierte er einen Inhaftierten.

Hier setzt laut Schwenger der Prozess der „restorative justice“ an, einer Form der Gerechtigkeit, die „Dinge so gut wie möglich in Ordnung bringen“ möchte im Gegensatz zu einer Gerechtigkeit, die auf dem Rachegedanken beruht.  „Es geht dabei nicht um formales Recht, sondern um die Wiederherstellung von Beziehungen.“ Das könne parallel zur Haft über verschiedene Formen von Gesprächen geschehen. In Deutschland sei dieser Ansatz bisher jedoch noch kaum verbreitet.

Einzelheiten zur Mitgliederversammlung verschicken wir demnächst per Post. Für heute erst einmal nur kurz erwähnt: Annemarie Franzmann aus Dresden gab aus Altersgründen ihr Amt als Regionalbeauftragte für Sachsen ab und erzählte aus den 22 Jahren ihrer Tätigkeit. Mehr dazu finden Sie hier.

 

Hier finden Sie
Fotos der Jahrestagung (pdf)
Vortrag von Oliver Weßels (pdf)
Vortrag von Friedrich Schwenger (pdf)

Zeitungsberichte:
Evangelische Zeitung: Willkommenskultur für Straftäter (pdf)
Leine-Deister-Zeitung: Es braucht Geduld und Toleranz (pdf)
Neue Deister-Zeitung: Brief-Freundschaften ins Gefängnis (pdf)
idea Spektrum: Auch ein Mörder verliert nicht seine Würde (pdf)
Cellesche Zeitung: Mehr Offenheit gegenüber Straftätern gefordert (pdf)

Und wie sah das letzte Jahr bei uns aus? Jahresberichte

Foto oben: Vorstandsmitglied Walter Punke begrüßt die Gäste.

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