„Haftcafé“ in Berliner Kirchengemeinde
Schnell noch entzündet Regina die Kerzen, während Angelika und Ursula Kaffee auf den festlich gedeckten Tisch stellen. Die ersten Gäste sitzen bereits am Tisch und unterhalten sich angeregt.
Jeden zweiten Donnerstag im Monat öffnet das „Café Rückenwind“ seine Pforten. Von 17 bis 19 Uhr begegnen sich in St. Rita in Berlin-Reinickendorf Freigänger sowie ehemalige Inhaftierte der Justizvollzugsanstalt Tegel und Ehrenamtliche aus dem Pastoralen Raum Reinickendorf-Süd. 16 Männer und Frauen sind an diesem Nachmittag gekommen.
Das Thema heute: Verzeihen. Der gewaltsame Tod einer 73-Jährigen, die von einem ihrer Söhne erstochen wurde, steht plötzlich im Raum. „Wie geht man mit so einer tragischen Tat um?“ fragen sich die Anwesenden. „Verzeihen, ja das geht, aber die Folgen bleiben. Der Mensch ist und bleibt tot, damit muss die Familie leben“, zeigt Pfarrvikar Stefan Friedrichowicz, gleichzeitig Gefängnisseelsorger der JVA Tegel, auf die klaffende Wunde, die die Angehörigen und den Täter belasten. „Als Täter verdrängst du erstmal sehr schnell. Das geht schon in der U-Haft los“: Bernd, selbst inhaftiert, weiß, wie ein Täter zunächst versucht, die Tat in seinem Innern ungeschehen zu machen. „Als Tatleugner kommst du allerdings nicht weiter“, ergänzt Matthias.
Ehrenamtliche aus dem gesamten Pastoralen Raum
Pfarrvikar Friedrichowicz brachte die Idee zum Café in den Pastoralen Raum. Der Gefängnispfarrer erkannte, dass es in Berlin an Orten fehlt, an denen sich Haftentlassene oder Häftlinge im Freigang wieder an die Gesellschaft annähern können. Orte, an denen sie auf Menschen treffen, mit denen sie sich normal unterhalten können, ohne wegen ihrer Vergangenheit ausgegrenzt zu werden. Auf Menschen, die ihnen auch mal hilfreich zur Seite stehen. „Wir haben die große Haftanstalt Tegel in unserem Pastoralen Raum, keine anderthalb Kilometer von St. Rita, ist das nicht eine Anfrage an uns?“ Friedrichowicz ließ in allen Gottesdiensten im Pastoralen Raum die Idee für ein Haftcafé verkünden. Aus allen Gemeinden meldeten sich recht schnell interessierte Ehrenamtliche. Eine Arbeitsgruppe bereitete dann das Projekt vor, das im Juni gestartet ist.
Menschen treffen, die die Angst vor der Welt nehmen
„Bei allem, was nach Café klingt, bin ich dabei“, meint Angelika lachend. Die gelernte Serviererin kommt aus St. Rita und möchte durch das Projekt Mitglieder der anderen Pfarreien kennenlernen. „Inhaftierte sind auch Menschen, das wird in unserer Gesellschaft häufig übersehen“, engagiert sich Linda aus Tegel in der Gruppe. Bernd sitzt zum dritten Mal in der Runde. „Die Leute hier sind freundlich und unvoreingenommen“, freut er sich über das Angebot der katholischen Kirche. Bernd hat 16 Jahre Knast auf dem Buckel und bereits seinen Neuanfang in Freiheit im Blick. „Für mich geht es darum, soziale Kontakte zu knüpfen und eine christliche Gemeinde zu finden, um mein Leben draußen in den Griff zu bekommen.“ Menschen zu treffen, die im Leben stehen, die ihnen die Angst vor der Welt nehmen, in die sie nach langen Jahren im Gefängnis wieder hineinfinden müssen: Darauf hoffen die Freigänger.
Weder werde nach der Tat gefragt noch nach der Haftdauer, erklärt Gabriele die Spielregeln und betont: „Wir sehen den Menschen.“ Für die Ehrenamtlichen gebe es die Anweisung, keine persönlichen Adressen und Telefonnummern auszutauschen. Auch sei ein Kurs zum Verhalten gegenüber Straftätern angeboten worden. „Mitleid habe ich nicht. Ich bin nicht der Richter. Man muss akzeptieren, dass sie lange Strafen absitzen“, betont Gabriele, „dennoch kann man ihnen menschlich begegnen.“
Ein Stück gelebte Bibel
„Für mich ist das hier ein Stück gelebte Bibel“, zeigt sich Pfarrvikar Friedrichowicz (Foto oben: links im Bild) begeistert, wie das Projekt im Pastoralen Raum aufgegriffen wurde. Er erinnert an das Matthäusevangelium: „Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“ (Mt 25,45). Die Arbeit mit Strafgefangenen und Haftentlassenen sei im Erzbistum Berlin bislang noch unterentwickelt, stellt der Gefängnisseelsorger fest. Umso mehr freut er sich, dass der Start in Reinickendorf-Süd geglückt ist. „Es ist ein offenes Angebot, von dem sich schnell viele im Pastoralen Raum angesprochen gefühlt haben. Damit ist das Thema kein Tabu mehr, sondern zum Thema von ganz Reinickendorf-Süd geworden.“
Geht es nach Friedrichowicz, soll sich das Projekt mit der Zeit weiterentwickeln. Im März ist geplant, mit Hilfe des Sozialdienstes katholischer Männer (SKM) einen eigenen Verein „Café Rückenwind“ zu gründen. Die Frage: „Wie geht das Leben nach der Entlassung weiter?“ stelle sich in den verschiedensten Facetten, meint der Pfarrer der JVA. So würden zum Beispiel dringend Wohnräume für das erste halbe Jahr nach der Entlassung benötigt, um ehemaligen Häftlingen einen stabilen Neustart zu ermöglichen. Friedrichowicz: „Das Projekt birgt Chancen für den gesamten Pastoralen Raum.“
Aus einer Pressemeldung vom 04.01.2018 des Erzbistums Berlin
Stand Oktober 2018: Das „Café Rückenwind“ unterstützt Inhaftierte auf dem Weg nach „draußen“ jetzt auch auf anderen Gebieten. Lesen Sie hier.
Stand September 2019 in zeit online
Aus der Arbeit von Friedrichowicz als Gefängnisseelsorger: Gibt es Gott hinter Gittern?
„Warum helfen Sie im Schwarzen Kreuz ausgerechnet Kriminellen?“
Fotos: Alfred Herrmann