21. April 2017

“Den Gefangenen eine andere Welt spüren lassen”

Früher hat Rudolf Rüßmann als Chirurg gearbeitet. Jetzt, als Rentner, hilft er Menschen auf andere Weise:  Über die Freie Hilfe Berlin e.V. besucht er Inhaftierte in Berlin, über das Schwarze Kreuz führt er seit gut einem Jahr einen Briefkontakt mit einem Gefangenen in Niedersachsen. Dazu führt er folgendes aus:

“Beim Briefkontakt muss ich mir genau überlegen, was ich schreibe. Bin ich zu forsch, frage ich also Dinge nach, über die mein Gegenüber nicht reden will, oder schreibe ich Dinge, die er nicht hören will, ist die Verbindung schneller unterbrochen, als sie zustande kam. Andererseits kann ich davon ausgehen, dass mein Brief vielfach zur Hand genommen, mehrfach gelesen und womöglich zu Herzen genommen wird.

Ich versuche so zeitnah wie möglich zu antworten, damit der Gefangene noch seinen eigenen Brief innerlich vor Augen hat und sieht, dass ich Bezug nehme. Dabei gehe ich auf alle Punkte, die er vorbrachte, ein. Ausführlich, aufrichtig, aufrichtend und im hohen Respekt des Gegenübers.

 

Auch der Gefangene ist ein soziales Wesen

Manchen Gefangenen fällt das Schreiben von Briefen durchaus schwer. Bei meinem Briefpartner muss ich häufig die Briefe mehrfach lesen, um dahinter zu kommen, was gemeint sein könnte. Dennoch haben seine Briefe in ihrer Mischung zwischen Unbeholfenheit und Hilflosigkeit eine emotionale Intensität, dass mir bei der Lektüre des Öfteren die Tränen kommen. Nonverbal kommunizieren wir dadurch, dass wir gemeinsam, das heißt immer abwechselnd, ein postkartengroßes Bild mit einem Kugelschreiber oder Filzstift bekritzeln.

Ich denke, dass sich viele Gefangene einen Briefpartner wünschen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, also auch der Gefangene. Er spürt dieses Bedürfnis, mit Menschen zu reden, sich zu unterhalten, sich mit anderen zu messen, seine eigene Position mit denen anderer neu einzujustieren, wahrscheinlich noch intensiver. Hinter Gefängnismauern kommen als Kommunikationspartner nur Knastbrüder oder Vollzugspersonal in Frage. Erstere werden zu nah, sprich als Rivale, letztere als zu distanziert, sprich als Gegner wahrgenommen, so dass ein Gegenüber, dem der Gefangene vertrauen kann, häufig nur außerhalb der Mauern zu finden ist.

 

Boten von einer anderen Welt

Briefe sollten Boten von einer anderen Welt sein, in der nicht immer Gleiches mit Gleichem vergolten wird, wo gegeben wird, ohne anderes zu verlangen, in der es nicht um Ansehen, Ehre, Rang und Reichtum geht, in der Zuwendung und Respekt weder käuflich sind noch durch gute Taten erwirkt werden können, sondern ohne Wenn und Aber gelebt werden. Straffällige sehnen sich nach dieser Welt, auch wenn oder weil sie ihnen sehr fremd ist.

Viele von ihnen werden zwar den Teufelskreis ihrer Abhängigkeiten und schlechten Gewohnheiten wohl nie oder erst als Ausgebrannte verlassen. Man sollte sich da nicht zu viele falsche Hoffnungen machen. Sonst riskiert man, sich im Gutmenschentum und schließlich in der Frustration zu verirren.

Das Einzige, was wirklich zählt, ist, dass dieser Mensch offene, nicht von Gegenleistungen abhängige Zuwendung bekommt. Dass ich ihn durch mein Verhalten eine andere Welt spüren lasse. Ob er zu dieser Welt aufbricht, ist seine Sache. Wenn seine Rehabilitation obendrein glückt, ist es das Sahnehäubchen.“

 

Fotos: Rudolf Rüßmann; Ausschnitt aus dem Brief eines inhaftierten Menschen

 

 

Kommentare: ““Den Gefangenen eine andere Welt spüren lassen””

  1. Sonja Welzel sagt:

    Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, das so ein Briefkontakt den Horizont erweitert. Dieser Kontakt bereichert mein Leben und lässt mich Dinge anders sehen oder überhaupt erst sehen. Ich würde mir wünschen, das es mehr Briefeschreiber geben würde, denn sie werden dringend gebraucht.

  2. Ute Yvars sagt:

    Ich danke Ihnen sehr für Ihre Worte, Herr Rüßmann, sie sind echte Ermutigung! …es ist so, als seien diese Worte sehr für mich. 😉 Ich habe seit letztem Sommer einen Briefkontakt, mein erster überhaupt, und derzeit gestaltet er sich irgendwie zäh und plätschert so dahin, weil ich das Gefühl habe, es bleibt nur oberflächlich. Gewollt oder unbewusst. Ich sollte nicht in Erwartungen verharren oder aufgeben, und wie Sie so schön formulierten, weiterhin Botin einer anderen Welt sein und bleiben…hingebungs- und hoffnungsvoll.

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