Gedicht eines Inhaftierten: Sehnsucht
Manchmal – ganz selten – nachts – einsam allein
wenn der müde Kopf ruhig liegt
dann ist sichtbar dass etwas vorbei zieht
wenn das Datum stimmt
die Uhrzeit die richtige ist
keine Wolke den Himmel bedeckt
der Vorhang nicht zugezogen ist
weil die 6 dicken Stahlstäbe heute egal sind
das helle gelbe Licht nicht stört
und der müde Kopf ruhig liegt
dann ist sichtbar wie der helle Mond vorbei zieht
über die Stadt mit der weissen Burg auf dem Hügel
mit Sehnsucht nach Menschen die er nicht kennt
obwohl er so lange mittendrin lebt
hinter 2800 kleinen Quadraten aus geflochtenem Draht
in die kein leuchtender Kreis hinein passt
da er stetig langsam ins nächste wechselt
wenn der müde Kopf ruhig liegt
dann ist sichtbar wie der helle Mond vorbei zieht
weil die Welt sich dreht auch ohne ihn – trotz ihm –
und dann empfindet er seltsame Freude
weil das so schön ist und besonders,
da niemand ohne Gitter so etwas sehen kann
und es dauert so lang dass er denken kann
mit dem müden Kopf der ruhig liegt
dann ist es sichtbar wie der helle Mond vorbei zieht
bevor er hinter den sieben Bergen versinkt
und er lange weg ist – wie er –
bis er wiederkommt
nach 2800 geflochtenen Nächten oder 6 dicken Stahljahren
Hoffnung ohne Zahl
weil er sie nicht kennt
im müden Kopf, der ruhig liegt
dann ist es sichtbar wie alles vorbei zieht
Manchmal – ganz selten – nachts – einsam allein.
Stephan S.
Stephan S. sitzt zurzeit eine langjährige Haftstrafe in einer sozialtherapeutischen Abteilung ab. Dort will er sich für ein zukünftiges deliktfreies Leben rüsten. Zum kreativen Schreiben kam er durch das Freizeitangebot „Erzähl-und Schreibcafé“ der ev. Seelsorgerin der Anstalt. Er unterhält seit einigen Jahren einen über das Schwarze Kreuz vermittelten Briefkontakt.